Seit dem 20. Juli 2024 gilt das Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG) in seiner überarbeiteten Fassung. Mit der Neufassung dieses Spezialgesetzes für die gerichtliche kollektive Geltendmachung von Ansprüchen wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen gehen wesentliche Änderungen einher. Neben der Beschleunigung der Verfahrensdauer und erweiterten Befugnissen des Oberlandesgerichts (OLG) bei der Bestimmung der Feststellungsziele können insbesondere die Einführung von „Discovery“-ähnlichen Beweisvorschriften erhebliche Auswirkungen für Unternehmen haben.
I. Was ist neu?
1. Vorlage von Beweismitteln
Die aus Unternehmenssicht wohl relevanteste Änderung stellt der neue § 17 KapMuG dar, der an das im US-Prozessrecht geltende „Discovery“-Prinzip angelehnt ist. Das „Discovery“-Prinzip steht im Gegensatz zum im deutschen Zivilprozess geltenden Beibringungsgrundsatz, wonach jede Partei dem Gericht die für ihren Vortrag erforderlichen Beweismittel vorlegen muss. Auf Antrag des Musterklägers kann das OLG nun gemäß § 17 Abs. 1 KapMuG anordnen, dass „ein Musterbeklagter oder ein Dritter in seinem Besitz befindliche Beweismittel vorlegt, die für die Beweisführung des Musterklägers erforderlich sind“. Nicht der Kläger, sondern der Beklagte muss somit künftig die Beweismittel für den Klägervortrag beibringen. Spiegelbildlich, wenngleich in der Praxis weniger relevant, kann der Musterbeklagte gemäß § 17 Abs. 2 KapMuG die Vorlage solcher Beweismittel durch den Musterkläger beantragen, die für die Verteidigung erforderlich sind.
Die Pflicht zur Vorlage von Beweismitteln ist an drei Voraussetzungen geknüpft:
- Erstens muss der Musterkläger glaubhaft machen, einen der in § 1 KapMuG genannten Ansprüche (z.B. einen Schadensersatzanspruch wegen falscher Kapitalmarktinformationen) zu haben.
- Zweitens muss er die geforderten Beweismittel so genau bezeichnen wie dies auf Grundlage der „mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen möglich“ ist.
- Drittens hat eine Anordnung der Vorlage der Beweismittel zu unterbleiben, „soweit sie unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der betroffenen Beteiligten und Dritten unverhältnismäßig wäre“ (§ 17 Abs. 3 KapMuG). Hierbei wird das Gericht unter anderem zu berücksichtigen haben, ob es sich um einen Antrag zur Ausforschung von Tatsachen handelt oder der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen oder sonstiger vertraulicher Informationen einer Vorlageanordnung entgegensteht (§ 17 Abs. 3 Nr. 3, 4 KapMuG).
Der Gesetzgeber bezweckt ausweislich der Gesetzesbegründung mit § 17 KapMuG den Ausgleich der „auch bei […] musterverfahrensfähigen Ansprüchen zu beobachtende[n] wechselseitige[n] Informationsasymmetrie der Verfahrensbeteiligten“. Der Vorlageanspruch bezieht sich daher nur auf solche Informationen, auf die der Kläger aufgrund einer seiner kapitalmarktrechtlichen Ansprüche inhärenten Informationsasymmetrie keinen Zugriff hat. Er bezieht sich dagegen nicht auf Situationen, in denen der Kläger eine Informationsasymmetrie – verschuldet oder unverschuldet – selbst herbeigeführt hat. Eine solche Situation kann etwa aus einem Verlust von Unterlagen resultieren, die dem Kläger selbst ursprünglich zur Verfügung standen.
In Kartellverfahren existiert mit dem § 33g GWB bereits eine vergleichbare Regelung. Diese diente dem Gesetzgeber als Vorbild für den neuen § 17 KapMuG. Vor diesem Hintergrund ist hinsichtlich der Voraussetzung der präzisen Bezeichnung der vorzulegenden Beweismittel zu erwarten, dass die Gerichte ebenso wie in Kartellverfahren keine überzogenen Anforderungen an die Klägerseite stellen werden. Auch bei der Auslegung der Grenzen der gerichtlichen Vorlageanordnung (§ 17 Abs. 3 KapMuG) wird auf die zu § 33g Abs. 3 S. 2 GWB entwickelten Maßstäbe für die Abwägung der berechtigten Interessen der Betroffenen zurückzugreifen sein. Bei der Abwägung der Interessen des Musterklägers und des potenziell Herausgabeverpflichteten ist daher der zeitliche, personelle und finanzielle Aufwand des Herausgabeverpflichteten zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber erkennt an, dass die Vorbereitung der Auskunft oder Herausgabe von Beweismitteln in erheblicher Weise in den betrieblichen Ablauf eingreifen kann. Die Gewichtung dieses Umstands durch die Gerichte bei ihrer Abwägungsentscheidung bleibt jedoch abzuwarten. Die Einführung dieser Beweisvorlagepflicht wird damit in den nächsten Jahren erhebliche rechtliche Auseinandersetzungen über den Umfang und die Art der herauszugebenden Beweismittel zur Folge haben. Die auf Unternehmen gegebenenfalls zukommenden administrativen, personellen und finanziellen Belastungen sind nicht zu unterschätzen.
Die entsprechend auf Anordnung des Gerichts in das Musterverfahren eingeführten Dokumente können nach Maßgabe des § 17 Abs. 5 KapMuG auch als Beweismittel in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen das Unternehmen verwendet werden. Häufig werden Unternehmen allerdings ohnehin mit der Staatsanwaltschaft kooperieren und dieser die entsprechenden Dokumente bereits zur Verfügung gestellt haben.
2. Erweiterung des Anwendungsbereichs
Der Kreis möglicher Antragsgegner eines Musterverfahrens nach dem KapMuG wurde erweitert. Angaben in „Bestätigungsvermerken von Abschlussprüfern zu offenzulegenden Jahresabschlüssen und Konzernabschlüssen“ wurden in den Katalog der relevanten Kapitalmarktinformationen (§ 1 Abs. 2 Nr. 9 KapMuG) aufgenommen. Hierdurch wurde eine in der Rechtsprechung bislang umstrittene Frage nunmehr gesetzlich geregelt: Das KapMuG findet Anwendung auf Schadensersatzansprüche von Anlegern gegen Wirtschaftsprüfer wegen Angaben in Bestätigungsvermerken von Jahres- und Konzernabschlüssen. Auch gegen Ratingagenturen kann künftig – ebenso wie gegen Emittenten von Kryptowerten-Whitepapern und Wertpapier-Informationsblättern (§ 1 Abs. 2 Nr. 2, 5, 9 KapMuG) – auf Grundlage des erweiterten Katalogs auf Antrag ein Musterverfahren eingeleitet werden.
3. Verkürzung gerichtlicher Fristen
Die Reform des KapMuG bezweckt auch die Beschleunigung von Kapitalanlegerverfahren. Hatte das Prozessgericht nach dem alten Gesetz noch sechs Monate Zeit, um die Zulässigkeit eines Musterverfahrensantrags zu prüfen, soll diese Prüfung nunmehr in drei Monaten (§ 4 Abs. 1 KapMuG) erfolgen. Der Beschluss des Prozessgerichts zur Vorlage an das OLG muss „unverzüglich“ nach Bekanntmachung von neun weiteren Musterverfahrensanträgen erfolgen (§ 7 Abs. 1 KapMuG).
4. „Zuschneiden” der Feststellungsziele
Eine stärkere Fokussierung des Gerichts auf sachdienliche Tatsachen- und Rechtsfragen soll künftig dadurch erreicht werden, dass das OLG nicht mehr an den Vorlagebeschluss des Prozessgerichts gebunden ist. Das OLG wird durch die Neufassung des KapMuG in die Lage versetzt, in einem eigenen Eröffnungsbeschluss „den Streitstoff ab[zu]schichten und die Feststellungsziele neu [zu] fassen“ (§ 9 Abs. 1 S. 2 KapMuG).
5. Keine automatische Aussetzung von Individualverfahren
Die zwangsweise Aussetzung aller Individualverfahren, die mit dem Musterverfahren nach dem KapMuG inhaltlich zusammenhängen, ist mit der Reform des KapMuG Geschichte. Nach § 6 KapMuG werden nur noch diejenigen Verfahren ausgesetzt, in denen die Kläger der Individualverfahren selbst einen Musterverfahrensantrag gestellt oder sich später dem Musterverfahren angeschlossen haben. Es steht zu bezweifeln, dass hierdurch die bezweckte Verfahrensbeschleunigung und Justizentlastung erreicht werden können. Gerichte wie betroffene Unternehmen werden stattdessen der parallelen Führung von Individualanlegerverfahren und Musterverfahren nach dem KapMuG ausgesetzt sein. Dies wird mit einem erhöhten Prozessführungs- und Kostenaufwand einhergehen. Ebenfalls parallel möglich sind weiterhin Abhilfeklagen und Musterfeststellungsklagen nach dem Verbraucherrechtedurchführungsgesetz (VDuG) (§ 1 Abs. 3 KapMuG).
II. Ausblick
Mit der Reform des KapMuG wird der kollektive Rechtsschutz in Deutschland ausgeweitet. Die Neufassung des KapMuG bietet aufgrund kürzerer Fristen Potenzial zur Verfahrensbeschleunigung. Dem OLG mehr Befugnisse hinsichtlich der Prozessgestaltung einzuräumen ist konsequent und kann dazu beitragen, zügiger über die wesentlichen Tatsachen- und Rechtsfragen zu verhandeln. Die Vorschriften zur Vorlage von Beweismitteln werden Unternehmen jedoch belasten. Die zu erwartenden gerichtlichen Auseinandersetzungen über den Umfang dieser neuen Offenlegungspflicht werden entgegen dem gesetzgeberischen Ziel zu einer Verlängerung der Verfahren führen. Unternehmen werden künftig zudem etwaige Auswirkungen offenzulegender Beweismittel auf andere Verfahren berücksichtigen müssen.
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