Es wird viel über die Entscheidung von Siemens diskutiert, vertragsgemäß Signaltechnik für eine Zugstrecke zu liefern, die das australische Carmichael-Bergwerk mit dem Meer verbindet.
Warum ist das Interesse hier so groß? Was ist das Besondere? Und was bedeutet das für Unternehmen?
Wachsender ESG-Fokus – Nachhaltigkeit von Unternehmen
Nachhaltigkeit und sog. ESG-Themen, also Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren (abgekürzt in Englisch: ESG), gehören derzeit zu den Top-Themen und längst auch zur Tagesordnung für Unternehmen. Aktivisten, Investoren und Öffentlichkeit messen Unternehmensentscheidungen an diesen Kriterien.
Die aktuelle Siemens-Diskussion hat dennoch eine neue Qualität, denn die Aktivisten verlangen etwas Neues: Vom Unternehmen wird ein Vertragsbruch gefordert. Dies ist insofern bemerkenswert als im Rahmen der Compliance-Diskussionen der letzten Jahre mit zunehmender Strenge gefordert wurde, dass der Vorstand vollständige Rechtskonformität nicht nur seines eigenen Handelns, sondern des gesamten Unternehmens gewährleisten muss. Nun wird stattdessen eine Rechtsverletzung verlangt.
Unternehmensinteresse und Rechtslage
Stellt sich nicht die Frage, ob Siemens dem öffentlichem Druck hätte nachgeben und sich entscheiden sollen, den Vertrag nicht zu erfüllen? Wäre dies dem Unternehmensinteresse nicht mehr entgegengekommen und das Unternehmen hätte dadurch die rufschädigende Debatte vermieden?
In der Tat hat der Vorstand seine unternehmerischen Entscheidungen am Unternehmensinteresse auszurichten und muss dabei auch einen möglichen Reputationsverlust berücksichtigen. Es gilt dabei auch ein Haftungsprivileg, nämlich die sogenannte Business Judgement Rule. Diese besagt, dass der Vorstand keine Pflichtverletzung begeht, wenn er auf Grundlage angemessener Information davon ausgehen durfte, zum Wohle der Aktiengesellschaft zu handeln. Dies gilt aber nicht für Rechtsverstöße. Diese sind keine unternehmerischen Entscheidungen, sondern schlicht Rechtsverstöße – in diesem Fall Vertragsbuch. Solche darf ein Vorstand nicht begehen. Diese sogenannte Legalitätspflicht gilt nicht nur für Gesetze, sondern auch für die externe Vertragsbindung. Es gibt zwar juristische Literatur, die das teilweise anders beurteilt, aber man wird keinem Vorstand empfehlen können, sich an dieser zu orientieren. Denn die Rechtsfolgen sind gravierend.
Rechtsfolgen – D&O Versicherung greift nicht bei vorsätzlichem Vertragsbruch
Der Vorstand haftet nach § 93 Aktiengesetz unbegrenzt für sämtlichen Schaden, der durch einen vorsätzlichen Vertragsbruch entsteht. Das können bei großen Projekten sehr erhebliche Beträge sein, z.B. wenn der Vertragspartner entgangenen Gewinn wegen Produktionsausfall geltend macht. Bei einem vorsätzlichen Vertragsbruch zahlt auch keine D&O-Versicherung, denn vorsätzliche Pflichtverletzungen sind vom Versicherungsschutz ausgeschlossen. Hinzu kommt das mögliche strafrechtliche Risiko, Untreue zulasten des Unternehmens zu begehen. Untreue wird nach § 266 Strafgesetzbuch mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Auch hier hilft keine D&O-Versicherung.
Siemens bleibt kein Einzelfall: Der Anspruch an Unternehmen wächst weltweit
Es ist mit einer zunehmenden Zahl derartiger Fälle zu rechnen. Es empfiehlt sich, unternehmensinterne Nachhaltigkeits- bzw. ESG-Richtlinien zu erstellen oder auf die aktuellen Erfordernisse hin zu überarbeiten und dann durch eine angemessen ausgestattete Compliance-Abteilung deren weltweite Einhaltung im Unternehmen sicherzustellen. Kritische Themen, wie ein unter Umständen problematischer Vertragsabschluss, sollten anhand sinnvoller Kriterien identifiziert und frühzeitig zum Vorstand eskaliert werden, damit dieser eine abgewogene Entscheidung treffen kann.
Bisher spielte oft die relative wirtschaftliche Bedeutung für das Unternehmen eine Rolle für die Frage, welche Themen dem Vorstandsvorsitzenden vorgelegt werden. Wie man aus der Siemens-Diskussion lernen kann, wird man künftig verstärkt über andere Kriterien nachdenken müssen. Offensichtlich unsinnig wäre freilich eine Regel, dergemäß alles was mit Klima zu tun haben könnte, vom Vorstandsvorsitzenden zu entscheiden ist. Daher wird sich auch künftig das Risiko nicht gänzlich ausschließen lassen, dass in Unternehmen ein Vertrag abgeschlossen wird, der dann Gegenstand heftiger Kritik am Vorstandsvorsitzenden wird.